HT 2023: Globalhistorische Perspektiven im Geschichtsunterricht! Zwischen Fachwissenschaft, Geschichtsdidaktik und Unterrichtspraxis

HT 2023: Globalhistorische Perspektiven im Geschichtsunterricht! Zwischen Fachwissenschaft, Geschichtsdidaktik und Unterrichtspraxis

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Jonas Schmid, Institut für Sinologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Schüler:innen wachsen heute in globalen Lebenswelten auf. Auch ein Verständnis vieler aktueller Krisen und Ansätze ihrer Bewältigung scheint nur auf globaler Ebene möglich. In ihrem Positionspapier „Globalhistorische Perspektiven im Geschichtsunterricht!“ fordern der Arbeitskreis Welt- und globalgeschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht in der Konferenz für Geschichtsdidaktik (KGD) und der Arbeitskreises Weltregionale und Globale Geschichte (AKWGG) im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) eine strukturelle Verankerung von globalgeschichtlichen Perspektiven im Geschichtsunterricht: „Geschichtsunterricht auf der Höhe der Zeit muss die globale Verflechtung als Signatur der gegenwärtigen Epoche auf der Ebene der historischen Zugänge, Inhalte, Methoden und Kompetenzen widerspiegeln.“1

Die von den beiden Arbeitskreisen gemeinsam initiierte Sektion auf dem Historikertag knüpfte an das Positionspapier an und nahm in den Blick, wie eine solche Integration von Globalgeschichte in den Schulunterricht konkret gelingen kann und vor welchen Herausforderungen sie steht. Besondere Aufmerksamkeit galt der Frage, wie globalhistorische Themen effektiv in den Unterricht integriert werden können, ohne die Fülle der bestehenden Aufgaben des Faches zu erhöhen. Die Sektion brachte verschiedene Perspektiven aus Fachwissenschaft, Fachdidaktik, Unterrichtspraxis sowie Lehrer:innenausbildung zusammen und machte so auch deutlich, wie wichtig der Austausch und die Zusammenarbeit über verschiedene Felder hinweg ist.

In einer kurzen Einführung wiesen SUSANNE POPP (Augsburg), SEBASTIAN DORSCH (Erfurt) und STEFFEN SAMMLER (Braunschweig) ausgehend vom Positionspapier der Arbeitskreise auf die Notwendigkeit einer globalgeschichtlich-perspektivierten Erweiterung der Geschichtslehrpläne hin, betonten aber auch, dass es nicht um eine Ersetzung bisheriger Themen durch neue globalgeschichtliche ginge, sondern vor allem um eine Erweiterung bekannter Themen um globale Perspektiven.

SILKE HENSEL (Köln) beleuchtete die Herausforderungen einer multiperspektivischen Sicht auf die „Eroberung Amerikas“, einem in den Curricula verankerten globalgeschichtlichen Thema, im Unterricht. Ausgehend von einer Stichprobe von Geschichtsschulbüchern für Nordrhein-Westfalen wies sie auf aus fachwissenschaftlicher Sicht problematische oder veraltete Darstellungen hin. So werde die Conquista in den Schulbüchern zwar kritisch beleuchtet, doch werde weiterhin allein den Personen auf spanischer Seite Handlungsmacht zugeschrieben. Abschließend zeigte sie, wie die Komplexität der betroffenen Gesellschaften in Amerika und ihre Handlungsmacht durch andere (Bild-)quellen im Unterricht stärker berücksichtig werden könnten.

Als Vertreter der China-Schul-Akademie2, stellte JONAS SCHMID (Heidelberg) in Vertretung für BARBARA MITTLER (Heidelberg) am Beispiel der chinesischen Geschichte vor, wie Wissensasymmetrien zwischen Fachwissenschaft und Unterrichtspraxis überwunden werden können. Ein Blick auf bestehende Materialien machte deutlich, dass auch im Falle Chinas die Schulbücher oft nicht dem aktuellen Stand der fachwissenschaftlichen Forschung entsprechen. Ausgehend von den Erfahrungen der China-Schul-Akademie wurden Ansätze zur Überwindung dieser Wissensasymmetrien skizziert: Fachwissenschaftlich fundiert aufbereitete und online frei zugängliche Quellen sowie Fortbildungen für Lehrer:innen können einen effektiven Wissenstransfer aus der Universität an die Schule ermöglichen.

PHILIPP MARTI (Aarau), DOMINIC STUDER (Aarau) und SIMON AFFOLTER (Aarau) präsentierten Ergebnisse eines empirischen geschichtsdidaktischen Forschungsprojekts, in dem gymnasiale Geschichtslehrer:innen in der Schweiz globalgeschichtliche Unterrichtseinheiten entwickelten und unterrichteten. In den Interviews mit den beteiligten Lehrer:innen wurden unterschiedliche Reflexionsebenen deutlich: Lehrer:innen befassten sich mit Globalgeschichte entweder auf didaktischer Ebene (Zielsetzungen) oder auf methodischer Ebene (Einsatz von Quellen). Insbesondere Verflechtungsgeschichte und die Vernetzung von lokaler und globaler Ebene wurden von den befragten Lehrer:innen als für den Unterricht geeignete Zugriffe verwendet.

JOCHEN GOLLHAMMER (Freilassing) ergänzte die genannten Chancen und Herausforderungen von Globalgeschichte im Unterricht um eine unterrichtspraktische Perspektive. Als Schulleiter betonte er, dass die Lebensrealität der Schüler:innen global und divers sei und deshalb unter den Schüler:innen eine hohe Motivation zur Beschäftigung mit globalgeschichtlichen Fragestellungen (insbesondere mit übergreifenden Themen wie beispielsweise Umwelt oder Revolutionen) vorhanden sei. Für eine notwendige globale Orientierungskompetenz müsse auch der Geschichtsunterricht einen Beitrag leisten, um es so Schüler:innen zu ermöglichen, die Welt als vernetztes System zu begreifen und komplexe globale Herausforderungen besser zu verstehen. Um die Bereitschaft unter den Lehrer:innen zu stärken, globalgeschichtliche Perspektiven in ihren Unterricht zu integrieren, brauche es aber Fortbildungen und online frei zugängliche Bildungsmaterialien sowie langfristig eine feste Verankerung von globalgeschichtlichen Lerninhalten im Lehramtsstudium.

In ihrem Beitrag zu globalgeschichtlichen Perspektiven im Referendariat bestätigten DENNIS RÖDER (Stade) und JAN STORRE (Lüneburg), dass Globalgeschichte in der Ausbildung von Lehrer:innen bis jetzt eine zu geringe Rolle spiele. Und dies, obwohl das Kerncurriculum in Niedersachsen globalgeschichtliche Themen umfasse. Sie stellten außerdem an Beispielen vor, wie von den Referendar:innen klassische Themen des Kerncurriculums in globalgeschichtlicher Sicht erweitert werden können. In diesem Prozess konnte teilweise auch auf fachdidaktisches Wissen anderer Fächer oder fachwissenschaftliche Kenntnisse von Expert:innen zurückgegriffen werden.

Abschließend stellten SUSSANE POPP (Augsburg) und PHILIPP BERNHARD (Augsburg) ein Konzept zur Verankerung von globalgeschichtlichen Themen im Geschichtsunterricht vor.3 Sie forderten eine verpflichtende Beschäftigung mit globalgeschichtlichen Perspektiven in jeder Jahrgangsstufe ab Beginn des Geschichtsunterrichts und unterschieden drei Leitlinien für solche Perspektiven: Erstens, globalgeschichtlich orientierte Überblicke in der Makroperspektive; zweitens, globalgeschichtliche Perspektivwechsel, die klassische Themen des Geschichtsunterrichts erweitern; sowie drittens, die Dekonstruktion von eurozentrischen Vorstellungen. Eine solche verpflichtende Verankerung sei angesichts der globalen Herausforderungen der Gegenwart, der globalisierten Lebenswelt der Schüler:innen sowie der strukturellen Defizite der hergebrachten Geschichtscurricula überfällig und könne außerdem besonders gut historische Kompetenzen wie Orientierungskompetenz und Perspektivwechsel fördern.

Die Sektion zeigte deutlich, wie notwendig eine feste Integration globalhistorischer Perspektiven im Geschichtsunterricht angesichts der aktuellen Lebensrealitäten ist. Die Diskussionen und Vorträge unterstrichen außerdem die Bedeutung einer engeren Verzahnung von Fachwissenschaft, Geschichtsdidaktik und Unterrichtspraxis. Ein erster Schritt zur Stärkung der Globalgeschichte im Unterricht könnten Unterstützungsangebote für Lehrer:innen (zum Beispiel aus der Fachwissenschaft) und gemeinsame Entwicklungsprojekte von globalgeschichtlichen Unterrichtsmaterialien sein. Langfristig müssten globalgeschichtliche Perspektiven allerdings fest in den Curricula und in Studium, Ausbildung und Fortbildung von Lehrer:innen verankert werden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Susanne Popp (Augsburg) / Sebastian Dorsch (Erfurt) / Steffen Sammler (Braunschweig)

Susanne Popp (Augsburg) / Sebastian Dorsch (Erfurt) / Steffen Sammler (Braunschweig): Einführung

Silke Hensel (Köln): „Die Eroberung Amerikas“ und die Herausforderungen einer multiperspektivischen Sicht im Unterricht

Barbara Mittler (Heidelberg): Wissensasymmetrien zwischen Fachwissenschaft und Unterrichtspraxis: Das Beispiel chinesische Geschichte

Philipp Marti (Aarau) / Dominic Studer (Aarau) / Simon Affolter (Aarau): Globalgeschichtliche Perspektiven im Schweizer Geschichtsunterricht: Empirische Ergebnisse eines geschichtsdidaktischen Forschungs- und Entwicklungsprojekts

Jochen Gollhammer (Freilassing): Plädoyer für die Stärkung globalhistorischer Perspektiven im Geschichtsunterricht

Dennis Röder (Stade) / Jan Storre (Lüneburg): Globalhistorische Perspektiven im Referendariat!? Überlegungen eines Fachleiters und eines Seminarlehrers Geschichte aus Niedersachsen

Susanne Popp (Augsburg) / Philipp Bernhard (Augsburg): Verankerung von welt- und globalgeschichtlichen Themen in den deutschen Geschichtslehrplänen – ein curriculares Konzept zur Diskussion

Anmerkungen:
1https://www.historicum.net/fileadmin/user_upload/5_disziplinen/6_didaktik/1_kgd/1_pdfs/news/2023/07-12-23_Positionspapier_AK_Initiative_Globalhistorische_Perspektiven_in_die_Geschichtslehrplaene.pdf (08.01.2024).
2 Vgl. https://www.china-schul-akademie.de/ (08.01.2024).
3 Vgl. Philipp Bernhard / Susanne Popp / Jutta Schumann, Ein geschichtsdidaktisches Plädoyer für die obligatorische Verankerung globalgeschichtlicher Perspektiven in den Geschichtscurricula, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 20 (2021), S. 18–32.

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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